Boris Pikula

MENTAL COACH - LIFE COACH - LEADERSHIP COACH - Heilpraktiker für Psychotherapie
 

Aqua Regis - Aphorismen

Vorwort

Hörst du ihn? Es ist der Herbstwind, der sein Lied erklingen läßt, der in den Bäumen heult, sie schüttelt und biegt und noch die letzten, festhängenden Blätter von ihren Ästen reißt. Wieder und wie-der ergreift er sie vom Boden, um sie wie ein wildes Kind, das sich herzlich an seinem Spiel erfreut, hoch in die Lüfte und weit über das Land in alle Himmelsrichtungen zu verstreuen. Aus der Ferne erscheinen all diese Blätter gleich als wären sie von ein und der-selben Gußform erschaffen.
Doch sobald man sich nähert, er-kennt man mehr und mehr ihr individuelles Aussehen: Jedes Einzelne dieser Abertausenden von Blättern weist einen eigenen Charakter in seiner Form, Farbe, Größe, Dicke und seinem Skelett auf. Und dennoch sind all diese Blätter Bestandteil eines Ganzen, einer Ganzheitlichkeit – der Poesie der Natur. Jedes unter ihnen, welches im Frühjahr jedem Baum entsprungen, mag es noch so klein, so verträumt, gewellt, glatt oder gezackt, angefressen, abstrakt oder wahnwitzig sein, hat seine ureigene Bestimmung und Berechtigung – sein eigenes Kommen, Werden, Sein und Vergehen. Keines unter ihnen fällt dem Urteil von „schön oder häßlich“, von „gut oder böse“, von „falsch oder richtig“ eines unbarmherzigen, engsichtigen Richters zum Opfer.

Ist es denn nicht eine ungeheuerliche Anmaßung des Menschen an sich als ein Teil der Natur, ja, des Kosmos, das Patent und den Anspruch auf alles, was richtig, nützlich, anständig, gut und schön ist, erheben zu wollen, fruchtbaren Boden in Friedhöfe des Wachstums zu verwandeln und alles Fremdartige, Seltene, Andersartige und manchmal paradox und absurd Erscheinende unüberlegt kurzer Hand auf den Schinderacker zu werfen?

Doch so wollen es alle Falschmünzer, alle Narren, Neider und moralgetriebenen Hasenfüße; all jene, die nicht vom Baum geweht werden möchten – all jene, die das Leben nicht auch aus der Tiefe heraus betrachten wollen und trotz Schwindel nur an den Höhen festklammern, – all jene, die aus jeder Wahrheit, über die sie ungewollt und aus Versehen stolpern noch zwei Lügen hervorbringen, um auch diese noch sich miteinander paaren zu lassen. So wollen es jene, die sich über die Größe ihrer heimlich erschlichenen Säule definieren, groteske Tempel errichten, in denen kein Ritual der Selbsterkenntnis stattfindet, sondern in denen unter dem Deckmantel seichter Worte einer abergläubischen und verhunzten Philosophie von einfältigen Paradigmen und einer eselsköpfigen Pedanterie seelische Folter betrieben wird.

Es ist die Alchemie der Lüge, welcher sie sich bemächtigt haben und deren Inhalt nicht die Befreiung des Geistes – die Freigeisterei – wünscht, sondern eben diesem Geist langsam und qualvoll die Luft abzudrehen beabsichtigt, ihn erstickt. Sind es nicht jene Säulen und Tempel, welche jegliches Sonnenlicht verdecken und weite, dunkle Schatten über das Land werfen? Sind es nicht jene Konstrukte, welche allein durch ihre äußere Erscheinung eine lebendige Innigkeit gar nicht erst zulassen?

Zugegeben, es ist ein waghalsiges Unterfangen und sicherlich eines der gefährlichsten Unternehmungen, ein Jäger und Sammler der Wahrheit zu sein. Denn, was war man, bevor man etwas sein wollte? All zu leicht verirrt man sich auf ihrer Fährte und watet, ohne es zu bemerken, in Sumpflandschaften, bis man feststeckt und zu versinken droht. All zu leicht bleibt man mit dem Kopf zwischen zwei Wahrheiten hängen, um wie von Mühlsteinen gemahlen sich in Staub aufzulösen. All zu leicht wandelt sie gar unbemerkt wie ein Wölkchen am Himmel vorüber, um bald darauf rücklings als Gewitterwolke zu erscheinen, während das Auge, noch starr nach oben gerichtet, dem Wölkchen hinterher zu sehen glaubt.

Die Erschütterung kommt aus dem Erdinneren und reißt auf, was zu hart geworden, was festhält und nicht will, was starr geworden und verschlingt rücksichtslos, gnadenlos, restlos, besinnungslos Säulen und Tempel. So auch der Blitz, welcher überraschend und lautlos zwischen der dicken Wolkendecke hervor-schießt. Erst sein Gefährte, der Donner, läßt das schlaftrunkene Vieh auf den Weiden das Wiederkauen unterbrechen und erschrocken umherirren. Wehe dem, der Widerstand leistet! Wehe dem, der die Kunst abzuleiten nicht beherrscht! Wird er doch gespalten und in ein elendes Häufchen Schlacke verbrannt, um abermals den Versuch zu wagen, mit allen Kräften und Willen erneut den Keim zum Sprießen zu bringen.

Sagt man nicht, die Gedanken seien frei? Frei, wie vom Winde getriebene, umhergewirbelte Blätter? Sind nicht auch sie einst einem Baum entsprungen, der seine Kraft aus dem tiefsten Inneren der Erde holte, aus einer unerschöpflichen Quelle, jungfräulich und rein – dem Wasser der Tiefe? Sang man nicht in einem Lied: Tiefe Brunnen muß man graben, wenn man klares Wasser will? Muß nicht auch der Baum sich von ihnen trennen, um bestehen zu können?

Wehe dem Baum, dessen Blatt nicht fallen möchte! Wehe dem Blatt, das den Herbstwind scheut! Wehe dem Blatt, das einem an-deren gleich sein will, um nicht bemerkt zu werden! Wehe der Frucht, die, sobald sie das Licht erblickt, geschnitten, getreten, verworfen, gestreckt und verurteilt wird, bis sie mundgerecht in leicht verdaulichen Häppchen, ohne zu kauen geschluckt werden kann! Wehe der Frucht, die Baum sein will, bevor sie gärend und überreif zu Boden fällt, um als Sproß das Licht zu erblicken!

Möge diese hier zu Aphorismen zusammen gefaßte Blattsammlung den ein oder anderen Leser dazu ermutigen, seinen Herbstwind aufheulen zu lassen und seine Blätter hoch in die Lüfte tragen, weit über die Grenzen des Landes hinweg. Mir kamen sie ebenso willkürlich und ohne Ordnung, ohne zu Fragen in den verschiedensten Momenten und eigentümlichsten Orten.

Wenn so manches Blatt vielleicht dennoch einen urteilenden oder bewertenden Charakter besitzt, so liegt seine Bestimmung möglicherweise in der Provokation, welche über den auftretenden Widerstand dazu auffordert, in die Auseinandersetzung mit sich zu gehen.

Hier, in diesem Buch, ist ihr Abdruck lediglich grob sortiert verewigt. Vielleicht bewirken sie bei manch einer wollenden und beherzten Seele die Befreiung einer geistigen Rohrverstopfung.

Man beachte: nicht das Festhalten von Gedanken mit dem Festhalten an Gedanken zu verwechseln!

Ich möchte diesen Zeilen die Freiheit geben, für deren Wert keine Worte existieren, deren Sinn keinen Zweck verfolgt, losgelöst von Raum und Zeit, deren Wahrheit nichts als Unsinn ist – und die dennoch zusammen ein strahlendes, goldenes Sonnengeflecht ergeben und das Meer in Königswasser verwandeln.

München, im Januar 2008


 
E-Mail
Anruf
Karte
Infos